Ouistreham – Wie im echten Leben
FR 2021; Regie: Emmanuel Carrere; Drehbuch: Emmanuel Carrere, Helene Deynck; Kamera: Patrick Blossier; Musik: Mathieu Lamboley; Schnitt: Albertine Lastera; Darsteller: Juliette Binoche, Helene Lambert, Lea Carne, Emily Madeleine, Patricia Prieur, Louise Pociecka. Länge: 106 Min. OmdUT
Trailer
Inhalt
Die Schriftstellerin Marianne beginnt ein Under-cover-Leben auf Zeit: In der Normandie bewirbt sie sich in einem Jobcenter um eine Stelle als Putzfrau, weil sie eintauchen will in das Leben jener Vernachlässigten und beinahe Vergessenen, die bei lächerlich geringer Bezahlung unter höchstem körperlichen Einsatz den Dreck anderer wegputzen müssen bzw. dürfen. Mit ihren neuen Freundinnen und Arbeitskolleginnen pendelt sie aus Caen in den Fährhafen Ouistreham, um dort im Schichtbetrieb und im Akkord die verschmutzten Kabinen der Fähren nach England zu reinigen. Das Eintauchen in eine Welt voll Ausbeutung und Geringschätzung bei gleichzeitigem Erleben von echter Freundschaft, gelebter Hilfsbereitschaft und Solidarität gerät für die privilegierte Künstlerin zur Herausforderung. Als ihre Doppelrolle entdeckt wird, sind die Auseinandersetzungen heftig und die Enttäuschungen riesengroß.
Kritik
Kritikerstimmen
Die freundschaftliche Nähe zu den anderen Frauen wird für Marianne zum Problem. Denn irgendwann wird sie ihre wahre Identität offenbaren müssen. Aus dieser Situation bezieht die Geschichte ihre Spannung. Und wenn es am Ende sentimental zu werden droht, findet der Film schnell in die Realität zurück zu den Putzfrauen von der Kanalfähre, die hier ein Gesicht bekommen. Das wirkt wie selbstverständlich und öffnet uns gleichzeitig die Augen. Ein authentischer und anrührender Film.
(NDR, Juli 2022)
Die Mühsal, der Stress, die Qual, all das kann nur berichtet werden, in den Bildern wird die schlimmste Akkordarbeit immer eine ungewollte Faszination ausüben, in ihrer mechanischen Schönheit und Präzision. Carrere, der auch dokumentarisch arbeitete, hat auch die Arbeitsszenen exakt inszeniert, und er hat einen zweiten Kameramann, Philippe Lagnier, losgeschickt, der unabhängig Aufnahmen in Caen machen sollte. Zwei Dutzend von diesen sind im Film eingefügt, Mystery Shots nennt Carrere sie.
(Fritz Göttler, sueddeutsche.de, 4. Juli 2022)
Emmanuel Carrere
Geboren 1957 in Paris. Er ist Schriftsteller, Drehbuchautor, Produzent und Regisseur. Seit den frühen 1980-er Jahren schreibt er Bücher, die teilweise auch wichtige Literaturpreise gewannen, wie etwa das 2022 erschienene ‚Yoga‘.
Neben seiner Tätigkeit als Drehbuchautor und Regisseur von Filmen für Kino und Fernsehen war er auch Jurymitglied bei bekannten Filmfestivals wie Cannes oder Venedig.
Hintergrund
Der Film basiert auf dem Roman ‚Le Quai d‘ Ouistreham‘ der französischen Journalistin Florence Aubenas. Die Schauspielerin Juliette Binoche kam erstmals 2010 mit dem Buch in Berührung und war begeistert davon. Der spontan aufkommende Gedanke nach einer Verfilmung erhielt jedoch einen Dämpfer: Die Autorin weigerte sich hartnäckig, die Rechte für eine Film-Adaption abzutreten. Immer wieder konfrontierte die Schauspielerin die Journalistin und Schriftstellerin mit ihrem Wunsch, so lange, bis diese schlussendlich tatsächlich ihre Zustimmung gab, allerdings unter einer Bedingung: Dass Emmanuel Carrere die Regie machen müsse.
Dieser äußert sich in einem Interview zur Entstehung des Films:
Es gab eine erste Idee, die zu einem Drehbuch führte, das ich mit Hélène Devynck schrieb. Nach vielem Herumprobieren sind wir von einer buchnahen Adaption abgerückt und dazu übergegangen, die Gemütszustände der Frauen ausführlich zu schildern, wie ich es in meinen Filmen liebe: hier die Freundschaften, die sich enger und intimer als anderswo entwickeln. Ich entschied mich, diese und ihre Folgen zentral zu behandeln und folglich auch das Gefühl des Verrats zu thematisieren, wenn die Protagonistin zugibt, dass sie eine Schriftstellerin ist.